Denken im Flüssigen
Isabel Zürcher
Vom Zirkulieren der Körper der Welt
Auf der ersten Seite des Materialbuchs, das Monika Dillier am 15. November 1995 eröffnete, sind drei Zeitungsausschnitte aufgehoben. Eigentlich haben sie nichts miteinander zu tun: die Sachfotografie eines künstlichen Kniegelenksystems, die schematische Darstellung eines Minerals und das Porträt des nigerianischen Bürgerrechtlers Ken Saro-Wiwa. Dillier hat seinen Kopf mit einer Bleistiftlinie umfahren und die Legende am unteren Bildrand unbeschnitten stehen lassen: „In einer Prozess-Farce mit acht weiteren Angeklagten zum Tode verurteilt und hingerichtet“. (Abb.)
Schönes Risiko der Veröffentlichung: Keine Redaktion kann voraussehen, welche Erzählung sich zwischen Bildern entspinnt, wenn diese ihren Kontext der Berichterstattung verlassen und im eigens dazu angelegten Buch eine neue Ordnung finden. Während vor allem das Datum ihrer Veröffentlichung die Folge bestimmt, werden wir Zeugen einer eigensinnigen Co-Existenz: Der Papst und die Modeschöpfer. Tierzucht und Filmprominenz. Zirkus, Erotika, Sport und Flugkörper. Mit der Schönheit jener zufälligen Begegnung des Regenschirms mit einer Nähmaschine auf dem Seziertisch1 berührt sich das höchstens ganz entfernt: Nicht ihr Interesse am Absurden oder Unbewussten schürt Dilliers fortlaufendes Sammeln, sondern ihr Staunen über die wirkliche, mikro- und makrokosmische, soziale und architektonische Oberflächenbeschaffenheit unseres Globus. Schön ist das, sofern man Schönheit, wie Dillier, nicht im harmlos Beschaulichen ortet, sondern dem Sichtbaren eine tatsächliche und mächtige Schaulust abgewinnt. Der textbasierten Information fast ganz entledigt, mutiert die Ikonografie der Zeitung zu einem üppigen Bericht über die Körper dieser Welt. Sie posieren, prozessieren, kriegen, lieben sich, zerbersten und kommen zum Erliegen.
Max Ernst wusste es und Monika Dillier erprobt es in lässiger Unabsichtlichkeit: Wo zwei oder mehr „wesensfremde Elemente“ aufeinander treffen, werden „die stärksten poetischen Zündungen“ provoziert.2 Über der büsserischen Pose von Hermann Göring und Rudolf Hess drängen sich, blau und weiss gefasst, betende Figuren der Muttergottes (Abb.): Im Puls der Medienbilder liegt der Internationale Gerichtshof nicht weit vom Versprechen der Absolution. Eine militärische Drohgebärde in San Cristóbal nimmt am 11. Januar 1996 Kontakt auf mit dem nachdenklichen Heiner Müller, dessen Zigarre erloschen scheint, wohl aus einem Nachruf aus der Neuen Zürcher Zeitung. (Abb.) Über einem konzeptkünstlerischen Augenpaar nach Heiner Blum erinnert Ingeborg Bachmanns frontaler Blick im verschneiten Park an eine Eule. (Abb.?)
Weltgeschichte in subjektiver Anverwandlung: Seit den frühen 1980er Jahren klebt Dillier Bilder aus Printmedien in leere Bücher, ohne sie dabei nach ästhetischen oder inhaltlichen Kriterien zu paaren. Nur der Zeitpunkt ihres Erscheinens beziehungsweise ihrer überraschenden, berührenden, bestürzenden und faszinierenden Wahrnehmung führt sie zusammen. Es sind visuelle Fragmente, die im Gedächtnis der Künstlerin noch Stunden oder Tage nach der Zeitungslektüre haften geblieben sind. Im unzensurierten Aufwisch der Erinnerung widerstehen Meisterwerke der Malerei, Porträts von Autoren oder Schauspielerinnen ebenso dem raschen Zerfall visueller Impulse wie Aufnahmen aus medizinischen Labors und botanischen Gärten. Die mediale Konstruktion der Welt gerät unter die Lupe, formiert motivische Ballungen, um sie im Fortgang der Seiten gleich wieder aufzulösen. In der Nähe zum Tagesereignis, die den emotionalen Bezug zum Gesehenen wachhält und Schreck oder Staunen an die Netzhaut weitergibt, stellt Dillier das Bild von seiner originären Funktion als Informationsträger frei. Jenseits von Nachricht nimmt es die Körper selbst beim Wort. Dilliers Materialbücher strafen die latente Kritik an der „Bilderflut“ Lügen: Alles kann Ikone sein, die Flut ein unerschöpflicher Fundus und ihr Sichten ein Wagnis. Denn wo die Versachlichung des Bildes, sei es dokumentarischer oder künstlerischer Natur, an ihr Ende kommt, bildet die Sammlung das eigene Verhältnis zur Welt mit ab.
Mnemosyne im Erregungszustand
Wir bestaunen die Wunder der Zivilisation, wir erforschen den Ursprung der Welt und diagnostizieren ihren Zustand auch und vor allem mittels fotografischer Aufzeichnungen. Die bildende Kunst, aber auch ihre frühe systematische Untersuchung haben das vermeintlich dokumentarische Medium dankbar aufgenommen und im Streben nach Übersicht Sammlungen und Atlanten angelegt. Dass das Ordnen dabei nicht unbedingt der Beruhigung zuarbeitet, sondern einem ungestümen Reigen menschlicher Ausdrucksformen ausgesetzt bleibt, hat der Kulturwissenschaftler Aby Warburg erfahren. Seine umfangreiche Bildersammlung – ein Versuch, die stilbildende Rolle des antiken Erbguts für die Renaissance und die Gegenwart zu sichten – weist die „Beredsamkeit des Leibes“ als kulturelle Konstante aus.3 Ohne Rücksicht auf ihre kunstwissenschaftliche Beglaubigung integriert Warburg Briefmarken, Münzen, Pressefotos oder Zeitungsausschnitte in seine immer wieder neu konfigurierbaren Bildtafeln. Im experimentellen Collagieren bildnerischer Reproduktionen fragt er nach der Funktion von Bildern schlechthin, legt in der Trivialisierung des Mythos die Macht der Tradition offen und gelangt zu einer eigenen Auffassung über den Ursprung der Kunst. „Durch sein Werk schützt der Künstler sich vor dem Angriff der Kräfte, die er herausgefordert hat. Der formgebende Akt ist ein apotropäischer Akt.“4 Mnemosyne nannte Warburg sein unabgeschlossen gebliebenes Konvolut: Es ist die griechische Schutzgöttin des Gedächtnisses und der Erinnerungskunst, die vom heutigen Künstler „Abkehr oder Einverseelung“ vorgeprägter Bilder und Gesten fordert.5 Die „Einverseelung“ liegt Dilliers Mentalität deutlich näher als die „Abkehr“, die das gesehene Schöne verwerfen müsste: Subjektiv erfasst sie, die selber ganz und gar nicht zum Singen begabt sei, die Reproduktion eines Popstars und schreibt sich selbst dem gefundenen Bildwerk und der erinnerten Stimme ein. Als langhaarige Lichtgestalt mit schwarzen Augen steht das Ich als Janis Joplin vor dem weissen Blattgrund. (Abb.) Eine Hommage an die jung Verstorbene, deren musikalische Hinterlassenschaft noch immer die Seele berührt, Anlass gibt zu einem glühenden Phantom- und Wunschbild.
Dilliers Bildersammlung will es mit Warburgs ambitionierter kulturgeschichtlicher Schau nicht direkt aufnehmen: Ihre Lust am Sammeln orientiert sich nicht an einer historischen Zeitachse, sondern an akut erlebter, visuell belegter Zeitgenossenschaft. Und doch kreuzen sich ihre Materialbücher mit Warburgs grosser Spurensicherung. Beide gehen ungestüm über die Grenzen von Hoch- und Populärkultur hinweg, beide bezeugen den „Nachhall“ überlieferter Ausdrucksformen, anerkennen die Wanderung von Motiven ins neue künstlerische Werk. Und beide kennen die Wirkungsmacht von Erinnerung: „Dem zwischen religiöser und mathematischer Weltanschauung schwankenden künstlerischen Menschen kommt das Gedächtnis sowohl der Kollektivpersönlichkeit wie des Individuums in einer eigentümlichen Weise zur Hilfe“, formuliert Warburg 1929, „nicht ohne weiteres Denkraum schaffend, wohl aber an den Grenzpolen des psychischen Verhaltens die Tendenz zur ruhigen Schau oder orgiastischen Hingabe verstärkend.“6 Bestehende Bildwerke scheinen ihm der wichtigste Nährboden für jeden neuen künstlerischen Ausdruck. Dillier erschafft sich solchen Boden selbst. Mit der fundamentalen Faszination für das Sichtbare gehen kleine Erschütterungen einher, die das einzelne Bild der fortlaufenden Sammlung zuführen.
Dillier kennt kein Skizzenbuch und beruft sich kaum je auf einen Entwurf. Mnemosyne im Erregungszustand: Sie muss ihre Wahrnehmung sammelnd kartografieren, muss gesehene Fundstücke in der Zeichnung bedenken, im Aquarell verflüssigen, im Raum zirkulieren lassen und in der Kombination neu zünden. Auch das vorliegende Buch verdankt seine Kapitel und Bildpaarungen solcher Verfahrensweise: Wir versuchten, ein Bild des Werks zu zeichnen, indem wir seiner inneren Gesetzmässigkeit, dem Wandern, den Vorzug gaben gegenüber einer Logik des chronologischen Ordnens.
Krieg und Frieden, Welt und Bett
Dillier ist in der Innerschweiz aufgewachsen, als die Neue Zürcher Zeitung noch keine Bilder druckte und die farbigen Kunstreproduktionen in der Kulturzeitschrift DU ein bildungsbürgerlich intensiv rezipiertes Ereignis waren. Als Kind und Jugendliche hat sie ihr kunsthistorisches Vokabular aus solchen Quellen genährt, um es in den vertrauten Horizont einer katholisch geprägten Bildlichkeit zu integrieren. Jahre später, nach der Ausbildung zur Zeichenlehrerin in Luzern und nach der Studienzeit im ungleich politisierteren Berlin, ist sie zum Sammeln eigener Ikonen zurückgekehrt. Das Fernsehen hatte da seinen Siegeszug bereits angetreten; mit der Übertragung von Song Contests, Kriegsschauplätzen, Wetterkarten erfasste es den privaten Bildkonsum und schürte das Bewusstsein für eine globale Verantwortung. Werktitel wie Tisch und Bett und Krieg und Frieden (1993) erzählen vom Aufprall der Weltereignisse im Raum intimer Häuslichkeit. Während die Amerikanerin Martha Rosler, spätere Kriegsschauplätze vor Augen und von Handy-Bildern eingeholt, den privaten Empfang von News mit sexueller Erregung koppelt und die Feuersbrunst in zynischer Gleichzeitigkeit durch die verglaste Wohnzimmerwand leuchten lässt, bearbeitet Dillier das Eindringen des Krieges ins Haus zeichnerisch, in roher Zeichenhaftigkeit.7 (Abb.)
Dass Dillier übrigens die vergleichsweise späte Veröffentlichung ihrer durch und durch analogen Materialbücher als Vierkanalinstallation auf altertümlich anmutenden Röhrenbildschirmen vollzieht, schliesst in Bezug auf jene rasante mediale Entwicklung eine schöne Pointe ein: Während TV-Sender in den 1970er Jahren den Absolutheitsanspruch des einzelnen Bildes erschüttert, ja die Wahrnehmung der Welt aus den Angeln gehoben haben, pocht die langsam blätternde Hand nun auf die Lektüre jedes einzelnen, einmal gehobenen Bildschatzes. (Abb.)
Dilliers Materialbücher sind keine Kunstwerke, wohl aber eine Ausgangsbasis, ein Rückgrat, ein Untergrund und Ideenvorrat ihres Schaffens, bestückt auch mit Idolen aus Film, Musik, Literatur und Bühne. „Götter und Heroen“ nennt die Autorin Barbara Honigmann ihre eigene, vor der Wende in ihrer Ostberliner Wohnung angelegte Sammlung an Vorbildern und Mutmachern. „Reproduktionen von Kunstwerken und Fotos von Freunden, aber auch das Foto einer Familie, Vater, Mutter, Sohn, ganz bürgerlich gekleidet, während des Aufstands im Warschauer Ghetto hinter einem Maschinengewehr liegend“ seien dabei gewesen, „Goethe von hinten am Fenster in Italien (...). Die ganze Ansammlung war so etwas wie ein Schrein der Geister, die mir Mut zusprechen sollten.“ Solche Sammlungen hätten zur Ausstattung manches Schreibtischs gehört, wo Angehörige des Kulturbetriebs „in einer vagen Opposition zum Staat lebten“.8
Es scheint mir kein Zufall, dass Dilliers sammelndes Schauen mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, in dem die junge Künstlerin das Spannungsverhältnis zwischen politischem Engagement und autonomer malerischer und zeichnerischer Praxis produktiv zu nutzen anfängt: Das Bild der Welt ist Nahrung und Legitimation zugleich für ihr Selbstverständnis, das die notwendig isolierende Atelierarbeit bis weit in die 1970er Jahre gescheut hat. Unmoralisch wäre es ihr bis dahin vorgekommen, Kunst zu machen, stand doch diese unter dem Verdacht eines weltfremden und darum illegitimen Rückzugs in den Elfenbeinturm. Der Entscheid, sich den Raum der individuellen Arbeit zu sichern und in Basel 1979 ein erstes Atelier zu beziehen, kommt einer Rückeroberung gleich. Sie macht die Bahn frei für eine bildnerische Produktion, die immer wieder Gesehenes, Empfundenes, Reflektiertes ineinander verschränkt und zueinander in ein Verhältnis setzt. Das Primat der Politik ist brüchig geworden, während der Sog des Poetischen in Malerei und Zeichnung am Puls und Kreislauf aktueller Bilderströme angeschlossen bleibt. Spätestens von diesem Zeitpunkt an wird Dillier nicht mehr primär mit der Konfrontation ihres eigenen Geschlechts mit dem anderen befasst sein. Die Suche nach dem Geistigen, die immer wieder auf den eigenen Körper gestossen war – einen Körper, der nicht gelernt habe, „Manifestation von Geist, Transzendenz, Schönheit und Hässlichkeit zu sein“9 – weicht einer Beschäftigung mit dem globalen Aussenraum und seinen unerschöpflichen Phänomenen. Annelise Zwez hat das Abklingen der feministisch motivierten künstlerischen Arbeit in Dilliers Generation aus der Nähe und über Jahre beobachtet. Die inhaltliche Öffnung sei nicht mit einem Bruch einhergegangen, sondern war Ergebnis einer neuen, erweiterten Blickrichtung, „und dies mit der Qualität eines Bewusstseins, das um seine Innenwelt weiss“.10
Ordnungsversuche
Zeichnen ist Verflüssigen – und dies nicht erst, als Dillier während ihres ersten China-Aufenthalts 1988 das Aquarell für sich neu entdeckt und Blüten ihre Blätter fluten. (Abb.) Das Blut scheint hier seine Verwandtschaft mit der Blüte kundzutun: Die grossen Kelche geben weniger ihre reizend bunte Blattstruktur zu erkennen als ihren quellenden, sprudelnden, schwellenden, auch unberechenbar seinen Weg suchenden Saft.11 Dilliers Zeichnen widersetzt sich der Festschreibung. Es hat mit Migration zu tun, manchmal ganz wörtlich und manchmal, indem ein Ding im Bild oder im Raum seinen Ort und Status ändert. In den Einsammelvorgängen (2004) hält unter anderem die Berichterstattung über illegale Einwanderer der Künstlerin Motive zu: Bootsleute, bereits im Seilziehen zwischen internationalen Abkommen Gegenstand eines ‚Einsammelvorgangs’, sind das Leitmotiv von Skizzen, Zeichnungen und Collagen. Der undogmatisch angewandte Suchbegriff – das Boot, das Schiff, das Kanu – ist zum Magnet einer eigenen Bildersammlung geworden, die auch „ein gestrandetes Schiff in Sibirien“ oder die „Bundesratswahl 2003, Vereidigung“ in sich aufnimmt.12 (Abb.) Ganz allgemein hält sich Dilliers Oeuvre in solch begrifflicher Unschärfe auf. Bevor sie Pinsel oder Stift ansetzt, war immer schon etwas da, was das Auge ertasten oder was die Erinnerung wach rufen kann. Im Zeichnen dann verändern die Dinge ihren verlässlichen Aggregatzustand und verweigern jeder vorausgeschickten sprachlichen Information die illustrative Eindeutigkeit. Ihre Anatomie folgt eher gedachten Bauplänen als einem visuell vermessenen Tatbestand. Im ungefähren Nachvollzug der Linie, Fläche und Farbe ereignet sich Verwandlung, die auch vor bewunderten Köpfen nicht Halt macht: Die massenmediale Streuung hat etwa Kurt Cobain, James Baldwin oder Marguerite Duras in Dilliers Universum ankommen lassen. Ihre Gesichtszüge – bereits zu Speichern eines kollektiven kulturellen Bewusstseins geronnen – werden von der bildnerischen Würdigung in Mitleidenschaft gezogen: Das Aquarell nässt sein Vorbild und droht das Porträt damit aufzulösen. Vielleicht sucht es in seiner grossen Sympathiebekundung etwas von den biografischen Abgründen offenzulegen, welche gleichzeitig die Bedingung und die Grenzen der künstlerischen Existenz markiert haben.
Das Abweichende ist die Norm der zeichnerischen Bewegung, die das Nahe erkunden und gleichzeitig das Ferne im Auge behalten will. Selbst aus dem Gedächtnis kommend, sucht der Gegenstand auf dem Blatt seine Erinnerung abzuwerfen, formuliert einen Appell an die autonome Wahrnehmung und ein Gedicht auf die Unwiderstehlichkeit der Materie. „Am 19. April 1991 wird es Frühling. Die Tulpen fleddern in den Vorgärten und die Magnolien platzen. Ich bin bereit zu allem.“13
Wie ein Vorwort schickt Dillier ein paar Sätze dem bebilderten und von kurzen Kommentaren versehenen Heft voraus, das ihre Ausstellung in der Zürcher Galerie Art-Magazin 1995 reflektiert und überdauert: „Ich sehe etwas, z. B. ein Fenster oder eine Blume, den Krieg im TV, die Gehirnscheibe im Computer oder einen Körperteil an mir; ich vergesse das Fenster, die Blume, den Krieg, das Gehirnteil und den Körper. Ich sehe ein kleines Stück von der Welt, und ich möchte wissen, was das ist, die Welt. Also nehme ich ein Blatt Papier, einen Pinsel und Farbe und fange an, mit dem Körper zu denken. Wie kann ich gleichzeitig die hundert Millionen Fetzen von Nervenzellen im Gehirn ordnen und dabei die Welt, das was nah und fern geschieht, im Auge behalten. Ich komme mir vor wie eine, die dauernd aufräumt und dabei immer noch mehr Unordnung veranstaltet.“14 Das gilt noch immer: Ihr Zeichnen lässt sich als Bewegung beschreiben, die gleichzeitig ums begreifende Festhalten und ums entlastende Vergessen kreist. Der fortlaufende Ordnungsversuch geht regelmässig übers einzelne Blatt hinaus. Dillier nimmt Hefte und Bücher, aber auch Wände und Räume, gelegentlich auch die verfügbaren Vitrinen eines Museums zu Hilfe. Und während sie das Dilemma zwischen Wissen und Schauen aufzuheben versucht, verstösst sie gegen die Regelwerke der Eindeutigkeit – ein Verstoss, der Programm bleiben darf in diesem Oeuvre, das in einer „vagen Opposition“ seine Wurzeln hat: „Verbote als Hinweis und Wegleitung nehmen und diesen entlang zeichnen. Sich dem Fluss des Zeichnens hingeben und dabei in einem fort Haken schlagen und gleichzeitig denken und nicht denken. Der Mensch ist auch ein Tier, und das Tier in mir ist stark.“15
Theater machen, Sehnsucht zeichnen
Monika Dillier ist kürzlich in Goethes Wahlverwandtschaften auf eine Aussage gestossen, die ihr eigenes Spannungsverhältnis zwischen Politik und Poesie auf einen entlastenden Grund stellt: „Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.“16 Über Jahrzehnte hat ihr Schaffen dem Spagat zwischen dem Stachel der Wahrnehmung sozialer Realität und der Affinität für den Zauber von Welt standgehalten. Im immer wieder ausholenden Pendelschlag zwischen Politik, kollaborativen Aktionen und individueller künstlerischer Produktion lebt es einerseits von der Energie der Reibung, wie das öffentliche Engagement sie provoziert, andererseits von der Begeisterungsfähigkeit über den sinnlichen Eigenwert von Farbe, Linie und Material. Knabenmorgenblüthenträume erzählt auch von dieser Spannung: Einerseits wäre der inhaltliche Horizont des Werks ohne das Wissen um Zusammenarbeit kaum abzustecken. Andererseits gilt es, dem Missverständnis vorzubeugen, dass jeder arbeitsgemeinschaftliche Gruppenausflug ein genuin künstlerisches Projekt oder gar ein Werk sei. (Abb.) Die Auseinandersetzung mit Monika Dillier ist darum ein faszinierender, nicht ganz risikofreier Gang entlang von Prozessen und Werken, der in unserem Dialog auch einen Generationensprung einschliesst: Ich selbst habe das expressive Aufbegehren der Kunst in den 1980er Jahren mit grosser Verspätung und entsprechend gefiltert zur Kenntnis genommen. Der politische Antrieb von Dillier und ihren Weggefährtinnen ist uns Spätergeborenen inzwischen zum Gegenstand der Historisierung geworden. Fern genug, um ihm als Infragestellung meines eigenen Werdegangs meiden zu müssen und doch zu nahe, als dass ich mich ihm entziehen könnte, erwächst aus dem künstlerischen Erbe jenes Aufbruchs auch ein Dilemma: Ich beobachte, wie die Rezeption dieses Werks lange, vielleicht zu lange vornehmlich unter dem Vorzeichen der weiblichen und körperbezogenen Autorschaft stand. Mein eigenes Fragen hat dennoch immer wieder auch auf genau jene Erzählung Bezug genommen, welche die soziale und körperliche Identität von Künstlerinnen zum Thema hat.
Dillier gehört zur Generation von Künstlerinnen, die in den 1970er Jahren mit der Behauptung einer genuin weiblichen Ausdruckskraft angetreten sind. In Wort und Tat lehnt sie sich auf gegen die Introspektion, die das kulturelle Bewusstsein der Frau zugedacht hat, geht Bündnisse ein mit Gleichgesinnten. So teilt sie etwa den Wunsch mit vierzehn Frauen unterschiedlicher beruflicher Herkunft, „Theater zu machen, vielleicht sogar Antitheater zu machen, zumindest anderes Theater, als die Männer es tun“. Zwischen Idolisierung und Dämonisierung zelebrieren die Damengöttinnen am Äquator auf der Kleinen Bühne des Basler Stadttheaters im März 1979 das weibliche Prinzip und seine Gefährdung. (Abb.) Ausgehend von Irmtraud Morgners Roman Leben und Abenteuer der Tobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura (1976) entwickelt sich unter Einbezug von Sprache, Musik und Improvisation eine abendfüllende Performance.17 Das monatelange Ringen um deren finale Form verstärkt bei Dillier die Dringlichkeit zur individuellen künstlerischen Praxis, die sich allerdings weiter am intensiven inhaltlichen Austausch nähren wird. Es ist ein Austausch, der in der Mitarbeit am öffentlichen Symposium Wissenschaft, Künste + alles Andere im November 1991 gipfeln wird, woraus Freundschaften, Kontakte, vor allem aber das Bewusstsein wächst, dass in Zusammenschluss und Komplizenschaft auch grosse Projekte zu meistern sind.18 Gemeinsam mit der langjährigen Freundin Miriam Cahn, mit Heidi Fischer, Marianne Kirchhofer und Anna B. Wiesendanger setzt die Künstlerin schon ein Jahr nach den Damengöttinnen zu einem neuen Selbstversuch an: Skeptisch gegenüber der kategorischen Verwerfung pornografischer Bilder im feministischen Diskurs, überprüfen die Künstlerinnen die Wirkung erotischer Texte und pornografischer Filme auf ihr eigenes körperliches und intellektuelles Befinden. Die Diskussionen nach der gemeinsamen Visionierung von Filmen werden sorgfältig protokolliert, alle Beteiligten nehmen mit eigenen Werken auf das Thema Bezug. Mit Dilliers übermalten Reproduktionen von Scham und Glied erhebt der erotisierte Körper Anspruch auf einen Platz in ihrem Bild. (Abb.) „Ich kann nicht sagen, dass ich bis jetzt herausgefunden hätte, was Pornographie für mich bedeutet. Es ist eine ziemlich uferlose Geschichte, die immer allerdings um meinen Körper und sein Verhältnis zur Geistigkeit kreist.“19 Die Verteidigung einer subjektiven, auch an Körperwahrnehmung Mass nehmenden künstlerischen Autorschaft äussert sich mit einer eigensinnigen Radikalität und ganz ohne Strategie im Hinblick auf eine erfolgreiche Ausstellungslaufbahn. Auch wenn Dillier sich stört daran, dass sie und ihre Mitstreiterinnen gelegentlich als „Dekorateure der Frauenbewegung“ aufgeboten sind – diese Zuordnung dürfte die Rezeption ihres Schaffens im Kontext der Kunst tatsächlich verlangsamt haben –, sind das Zusammenarbeiten und die engagierte Teilhabe an einem interdisziplinären Diskurs wichtiger als die Rücksichtnahme auf Kriterien des Ausstellungsbetriebs und Kunstmarkts.
Ihr glücklichen Augen
Für Dillier bleibt das bereits zitierte Wechselverhältnis zwischen Körper und Geist auch jenseits der weiblichen Selbstbestimmung ein Leitmotiv. Weitet sie darum ihre Arbeit auf Papier um erfundene oder aufgelesene Titel und Bildbeischriften aus? Immerhin entzieht sich das Wort eher dem Verdacht der feministisch untermalten Körperbetonung. „Schreiben scheint vom Zeichnen abzustammen“, hat Robert Walser einmal formuliert.20 Und Dilliers Schaffen formt dazu einen losen Echoraum. Ihr eigentliches und hauptsächliches Medium ist die Zeichnung, mit offenen Grenzen hin zur Malerei, immer ankommend im „labilen Zustand präziser Formulierungen“.21 In der Sprache suchen Bilder Rückhalt oder Ausdehnung, sprachlich reflektiert die Künstlerin ihr Tun. Das Wort – „zwei Gehirne“, „Bombenhagel“, „Fadenkreuz“ – lässt innere Bilder im Kopf zirkulieren, während die Zeichnung auf dem Blatt gegenüber ein Äquivalent anbietet. Mit verschränkten Armen (die Welt anschauen) (1995) (Abb.): Nicht immer ist in dieser Serie klar, ob ein bildhafter Begriff das Zeichnen stimuliert hat oder ob das mit Bleistift gezeichnete Motiv nach seiner Bezeichnung verlangte. Der Körper als Träger und Resonanzraum psychischer Erfahrungen jedenfalls gibt seine intakte Oberfläche preis, händisch wiedergegebene Überbleibsel aus Kriegsberichterstattung, Architektur und Natur führen Bedrohliches und Beschauliches in eine ungewohnte Nachbarschaft.
Kann vielleicht das Sehen selbst die als Spannung erlebte Lücke zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen überbrücken? Ich selber neige dazu, Dilliers Werk von den frühen malerischen Äusserungen bis hin zum Gläsernen Blühen (Abb.) oder zum bunten Glücksvorrat (Abb.) als Ausdruck dieser Hoffnung und als Arbeit an diesem Ziel zu lesen. In der bildnerischen Wiedergabe des Geschauten geht es ihr nicht um den zeichnerischen Nachvollzug retinaler Reize. Vielmehr will das Auge erfasst sein als Nadelör zwischen Innen und Aussen, wobei auch die Sprache den Test zu bestehen hat, ob sie jene Grenze zwischen immateriellem Wissen und haptischer Erfahrung zu weiten und Assoziationsräume zu öffnen vermag. Im Buch 177 mal grosse Sehnsucht und grosse Angst (1991) pendelt Dillier zwischen Zeichnen und Schreiben, übt mit dem linearen Gleichmut des Kugelschreibers die „Vermehr-Fachung“ der Augen oder deren hellseherische Verschattung. Seite um Seite wird die Asymmetrie zwischen Erscheinung und Empfindung im Bild von Köpfen augenfällig. „Ich zeichne / ihr glücklichen Augen was je ihr gesehen.“22 Das zeichnen einleitend in kreuzweiser und linearer Schraffur programmatische Grossbuchstaben im Buch. Die Augen sind glücklich, weil sie – im Prinzip – was sie sehen nicht werten. Erst, wenn das Geschaute am Kanon der kollektiven Wahrnehmung und öffentlichen Stellungnahme gemessen wird, kann die reine Schaulust Schaden nehmen und macht einer Beunruhigung Platz. Dillier spricht es aus: „Als das Attentat auf Lafontaine passiert ist, habe ich gemerkt, daß diese Frau mit dem weißen Kleid, mit dem Blumenstrauß und dem versteckten Messer, wie sie auf Lafontaine zugeht und wie sie das Messer in den Hals von Lafontaine steckt, daß das etwas war, das mich als Bild total fasziniert. Es löst sich für mich vom eigentlichen Vorfall ab, der ja schrecklich und für Lafontaine furchtbar ist, aber ich merke einfach, daß mich das Bild fasziniert, und das beunruhigt mich.“23
Als Heinrich von Kleist vor Caspar David Friedrichs Ölgemälde Der Mönch am Meer gestanden hat, schien ihm, man hätte seine Augenlider abgeschnitten. Die rückhaltlose Landschaft setzte seinen Blick einer ungewohnten Erfahrung aus – einer Erfahrung, die dem „reinen Sehen“, einer Schau ohne konkurrenzierendes Wissen, der Malerei der Moderne den Weg bereiten sollte. Ohne eine ähnlich folgenreiche kunsthistorische Schwelle zu behaupten, laden auch „glückliche Augen“ zu neuer Sehweise ein. Dillier beraubt uns nicht der schützenden Augenlider, sondern lehnt sich auf gegen die immer eilige, moralisch einwandfreie Deutungsmacht. Sie kappt den Sehnerv, bevor der überwältigende Reichtum seiner Signale im ordnenden System unserer schmalen Horizonte eingeebnet wird. Weder Angst noch Sehnsucht sind damit gebannt. Doch im Verteidigen der „Menschenrechte des Auges“24 bleibt ein Staunen möglich, das grosse Blätter mit Farbe flutet (Abb.), das Ikonen weiter wandern lässt und dem Nervensystem der Mnemosyne weitere Überwältigungen schenkt.